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Spiegelbild                                                                                  Von Yoko Tawada

Es war einmal ein Mönch, der ein Spiegelbild des Mondes in einem Teich sah und ins Wasser sprang, um es zu umarmen. Der Teich lag am Ende eines kleinen Waldes. Der Tempel lag auf der anderen Seite des Waldes. Ein schmaler Weg führte vom Tempel durch den Wald bis zum Teich. Es gab noch einen anderen Weg, der vom Tempel in ein Dorf führte. Dieser Weg wurde sehr selten benutzt. Der Mönch stand jeden Morgen um fünf Uhr auf, reinigte die Räume im Tempel, studierte die heiligen Schriften und arbeitete nachmittags im Garten. Dort baute er Gemüse und Getreide an, von denen er sich ernährte. Abends studierte er weiter die heiligen Schriften. Wenn er zu lange wach blieb, kam es vor, dass er am Schreibtisch sitzend einschlief.
Es war eine Vollmondnacht. Der Mönch las in einem Gebetbuch und schlief dabei ein. In tiefem Schlaf ging er durch den Wald bis zum Teich.

Der Mönch geht am Ufer des Teichs entlang und sieht den Mond im Wasser.
Er sieht ihn mit geschlossenen Augen, weil er schläft.
Durch das Sehen wacht er nicht auf.
Das Aufwachen würde ihm beim Sehen nicht helfen.
Er springt ins Wasser.
Und?
Er ertrinkt.
Er trinkt.
Er trinkt das Wasser. Er trinkt den Mond.
Er wollte den Mond umarmen. Aber jetzt hat er ihn getrunken.
Und er ertrinkt.
Wer sind Sie?

Ich lese gerne und gehe nachts spazieren, wenn ich nicht einschlafen kann. Ich sehe dann immer das, was ich gerade gelesen habe.
Man sieht das Gelesene im Wasser.
Man sieht es im Himmel.
Der Mönch springt nicht sofort ins Wasser.
Er schaut nach links und nach rechts.
Er schaut nach oben und stellt fest, dass am Himmel kein Mond steht.
Wie bitte?
Der Mond existiert gar nicht als solcher. Es gibt nur sein Spiegelbild im Wasser.
Vielleicht ist er nur nicht zu sehen.
Das Sehen bedeutet nicht viel.
Vielleicht ist der Mond nur heute nicht da.
Er ist noch nie dagewesen.
Warum sieht der Mönch dann das Spiegelbild des Mondes im Wasser?
Das Spiegelbild ist von gestern.
Oder der Mond ist von gestern.
Man sieht den Mond von gestern nicht.
Der Mond, den keiner sieht, ist von gestern.
Er befindet sich in einer falschen Zeit.
Was in einer falschen Zeit lebt, sieht man falsch.
Der Mönch sieht mit einem falschen Blick.
Nein, der Mond erscheint nur im falschen Moment.
Auch ein richtiger Mond kann in einem falschen
Moment falsch sein.
Es ist ein Falschmond, den keiner sieht.
Das, was keiner sieht, kann nicht falsch sein.
Der Mönch merkt gar nicht, dass er einen falschen
Mond sieht.
Der Mond weiss nicht, dass er als falscher Mond
gesehen wird.
Das ist bloss ein Spiegelbild.
Ein Spiegelbild ist nie falsch.
Das ist kein Spiegelbild, das ist ein Mond aus Wasser.
Der Mönch sieht einen Mond, der aus Wasser besteht. Dieser Mond ist flüssig. Er ist nicht oberflächlich.
Er ist nur oberflächlich, wenn er gesehen wird.
Er ist nicht mehr oberflächlich, wenn er berührt wird.
Die Hand, die ihn berührt, wird nass.

Einen Tag später berichtete die Zeitung über den Selbstmord des Mönchs. Viele Menschen im Dorf wunderten sich, weil es selten vorkam, dass ein Mönch auf diese Weise starb. Sie merkten erst jetzt, wie wenig sie über sein Leben wussten. Sie hatten ihn selten gesehen. Wenn sie sich mit ihm unterhielten, sprach er immer über den Tod. Aber es lag nur an seinem Beruf. Keinem fiel dabei ein, dass auch der Mönch eines Tages sterben würde. Einige sagten, dass er wahrscheinlich versehentlich in den Teich gefallen und ertrunken war. Andere sagten aber, dass das unmöglich sei, weil der Mönch sehr gut schwimmen konnte. Als er noch ein kleines Kind gewesen war, schwamm er gerne im Teich wie alle anderen Kinder aus dem Dorf. Seitdem er Mönch geworden war, ging er nicht mehr ins Wasser, weil er Ehrfurcht vor dem Wasser bekommen hatte.

Der Mönch springt ins Flüssige, um das Flüssige zu umarmen.
Er ertrinkt nicht. Er hält sich fest an dem Wasser-Mond.
Seine Hände werden nass.
Für einen zerfliessenden Blick gibt es nichts Festeres als Wasser. Für das Wasser gibt es nichts Festeres als den
Blick eines Menschen.
Der Mönch blickt mit geschlossenen Augen aufs Wasser.
Er schwimmt nicht. Er setzt sich auf das Wasser.
Er legt sich auf das Wasser. Er weiss nicht, wo der Himmel ist und wo die Erde.
Wer den Himmel vergessen kann, versinkt nicht.
Wer sind Sie?
Ich rede zu viel und schreibe zu wenig.
Wer am Wasser sitzt, redet viel.
Das Wasser trägt jedes Gespräch.
Wer auf dem Wasser liegt, redet nicht mehr.
Wer sind Sie?
Ich schwimme zu oft und rede zu selten.

Ein Mädchen aus dem Dorf ging zu dem Teich. Seine Mutter hatte ihm erzählt, dass der Mönch dort gestorben sei. Es war ein stiller Nachmittag. Der Himmel wurde immer dunkler, und die Luft wurde kühler. Da kam Wind auf und brachte die Oberfläche des Wassers durcheinander. Das Mädchen hörte ein Geräusch aus dem Wasser.

Was hören Sie jetzt?
Ich höre ein Wassergeräusch.
Jedes Wassergeräusch bringt etwas Licht.
Es werde Licht! Und es ward Geräusch.
Es ist hell.
Sehen Sie jetzt mehr?
Nein, es ist zu laut hier. Darum sieht man schlecht.
Im Schlaf sieht man nur durch das Hören.
Was sehen Sie jetzt?
Ich höre ein Wassergeräusch.
In der nächtlichen Landschaft wäscht sich der Mönch seine Hände.
Weil seine Hände zu rein sind. Er spült ihre Reinheit ab.
Er wäscht seine Hände mit dem Wind.
Und der Wind hat die Gestalt einer Welle.
Die Welle erreicht den Mönch, und er wird nass.
Der Mönch zieht sich nicht aus.
Er zeigt sich nie nackt.
Mit seinem Gewand sitzt er auf dem Wasser.
Die Falten seines Gewandes werden zu Wellen.

In einem Zeitungsartikel stand, der tote Mönch sei nackt aufgefunden worden. Die Leiche schwamm auf dem Wasser, als ein Fischer zum Teich kam, um Insekten zu sammeln.
Das Mädchen wollte das Gewand des toten Mönchs finden. Wenn es stimmte, dass der Tote nackt gefunden worden war, so musste sein Gewand irgendwo am Teich liegen. Nach einer Weile wurde es dunkel. Die Mutter wartete zu Hause auf das Mädchen. Sie glaubte, das Mädchen sei ins Nachbardorf gegangen, um seine ehemalige Lehrerin zu besuchen. Das Mädchen suchte das Gewand und fand es nicht. Enttäuscht setzte es sich hin und blickte ins Wasser. Da leuchtete etwas: es war ein Buch.
Der Mönch zieht sich nie aus.
Er trennt sich nie von seinem Gewand.
Er trennt sich nur von seinem Gebetbuch.
Er wirft das Buch in den Teich.
Und es versinkt im Wasser.
Das Wasser ist kalt.
Aber das Buch ertrinkt nicht. Die Schriften können ohne Luft atmen.
Das Buch liegt unter Wasser.
Der Mönch hat nichts mehr zu lesen. Er hat jetzt genug Zeit zum Ertrinken.
Schwimmen kann jeder Mensch. Ertrinken aber kann nur jemand, der weiss, dass das Wasser keine Form hat.
Ertrinken kann nur jemand, der weiss, dass sein Körper kein Form hat.
Ertrinken kann nur jemand, der liest. Dass das Wasser und der Körper keine Form haben, steht nur in dem Buch.
Das Buch liegt im Wasser.
Es leuchtet, wenn der Himmel dunkel wird.
Ausserhalb des Wassers ist das Buch nicht lesbar.
Der Mönch springt ins Wasser, um das Buch zu lesen.
Und er ertrinkt.
Er sinkt unter Wasser und sieht kleine Splitter des Mondes.
Er sieht die Splitter des Spiegelbildes.
Das Bild auf der Oberfläche des Wassers zerbricht, als der Mönch hineinspringt.

Das Mädchen hockte sich nieder, streckte seine Arme nach dem Buch aus und versuchte, es zu greifen. Die Erde unter den Füssen war weich und sackte weg, und das Wasser war viel tiefer, als es ausgesehen hatte. Das Mädchen fiel ins kalte Wasser und ertrank. In der Nacht erschien kein Mond.

Der Mond sieht den Mönch im Wasser, der dort in dem Gebetbuch liest.
Der Mond springt ins Wasser, um den Mönch zu umarmen.
Er zerbricht.
Er zersplittert.
Seine Splitter verteilen sich im Wasser.
Der Teich ist jetzt leer.
Im leeren Teich befindet sich ein Buch.
Und ein Mönch, der das Buch liest.
Und der Mond, der den Mönch umarmt.
Und ein Mädchen, das tot ist.
Es war einmal.
Sie sind jetzt. Sie sind hier.

 

Yoko Tawada, 1960 in Tokyo geboren, ist Schriftstellerin und lebt in Hamburg.

 

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